WARHAMMER 40.000

DAN ABNETT

Das Attentat


Das Buch

Die imperialen Truppen im schwer umkämpften Sabbat-System schöpfen neuen Mut, als auf dem Planeten Herodor ein Mädchen auftaucht, das behauptet, die Reinkarnation der Heiligen Sabbat zu sein. Trotz der Zweifel, die das imperiale Oberkommando an ihrer Echtheit hegt, beweist sich dieses Mädchen als äußerst nützlich, um die Kampfmoral der Soldaten vor Ort zu stärken. Dieser Motivationsschub ist für Kommissar Ibram Gaunt und seine Geister des Ersten und Einzigen Tanith dringend erforderlich, denn auch die dunklen Mächte des Chaos haben den Wert der wiedergeborenen Heiligen erkannt. Sie greifen den Planeten nicht nur mit einer Übermacht aus Blutpakt-Einheiten an, sondern setzen auch ihre tödlichsten Attentäter auf die Heilige an. Die neun kommen nach Herodor …


»Im Jahre 773.M41, dem achtzehnten Jahr des Sabbatwelten-Feldzugs, hatten es die Kreuzzugstruppen unter Kriegsmeister Macaroth immer noch nicht geschafft, die berüchtigte Festungswelt Morlond einzunehmen. Solange Morlond aushielt, konnte es mit dem Kreuzzug nicht weiter vorangehen und würde Macaroth mit seinen Truppen keine entscheidende Auseinandersetzung mit den Kerntruppen des Oberbefehlshabers (›Archon‹) des Erzfeindes, Urlock Gaur, im Carcaradon-Sternhaufen herbeiführen können. Mehr denn je schien das Kreuzzugsheer auf katastrophale Art überbeansprucht und zunehmend anfällig für Flankenangriffe zu sein. Chaos-Heere unter dem Befehl zwei der unbarmherzigsten Unterführer des Archon, Anakwanar Sek und Enok Innokenti, hatten beträchtliche Erfolge mit Gegenschlägen entlang der kernwärtigen Flanke des imperialen Vorstoßes erzielt. Falls sich diese Erfolge fortsetzen sollten, bestand die Gefahr, dass die Kreuzzugsstreitmacht auseinandergerissen und der größere Teil mit dem Kriegsmeister abgeschnitten, umzingelt und ausgelöscht würde.

Macaroth war sich der Gefahr nur allzu bewusst und auch der unkalkulierbaren Natur des Problems. Er konnte aus Furcht vor einem Flankenangriff den Zustand der Überbeanspruchung nicht beibehalten, aber er konnte auch keine Einheiten von der Morlond-Front abziehen, da eine Schwächung dort seine vordersten Truppen verwundbar für Gaur gemacht hätte. Beide Möglichkeiten schienen den Fluch des Scheiterns in sich zu bergen. Macaroth musste schlicht entscheiden, welche er riskieren sollte. Bekanntermaßen zeigte er einem seiner Generäle zwei identische Pokale mit Wein und forderte ihn auf, einen davon auszuwählen. ›Der eine enthält ein Lebenselixier, der andere Gift‹, sagte er.

›Wie kann ich die beiden unterscheiden?‹, fragte der General. ›Indem Ihr einen davon wählt und kostet‹, erwiderte der Kriegsmeister.

Schließlich beschloss Macaroth, alles so zu lassen, wie es war, die Überbeanspruchung zu riskieren und mit einer letzten gewaltigen Anstrengung weiter um die Einnahme Morlonds zu kämpfen. Im dritten Vierteljahr von 773 begann Enok Innokenti mit seinem mörderischen, verheerenden Flankenangriff in der Khan-Gruppe.

Es war eine Zeit der Katastrophen und des drohenden Scheiterns.

Und der Wunder …«

 

– aus: Geschichte der Späten Imperialen Kreuzzüge


PROLOG

Die Information war bereits seit einer Woche in ihrem Besitz. Dennoch sah Er sie sich zwei- oder dreimal am Tag und noch öfter in der Nacht während der Wachzeiten an. Er sah sie sich an, als erwarte Er, dass sie sich irgendwie änderte.

Etrodai wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Er wusste nicht, ob dies bedeutete, dass Ihn die Nachrichten freuten oder beunruhigten. Das bekümmerte Etrodai gewaltig, denn er rühmte sich, Seine Launen und Stimmungen zu kennen wie kein anderer. Etrodai war seit zweiundneunzig Jahren Sein Lebenswart, hatte diese viel beneidete Stellung errungen, indem er seinen Amtsvorgänger in einem legalen Mord-Duell bezwungen hatte. Niemand kannte Ihn besser als Etrodai.

Nur dass Etrodai jetzt auch nicht mehr wusste als die anderen.

Überall entlang der matten Säulen und staubigen Alkoven der Prozession flatterten die Spinnweben und klapperten die Knochen. Es bedeutete, dass Er wieder unruhig war. Bevor sich die Onyxtüren öffnen konnten, war Etrodai bereits auf den Beinen und hatte die Knochenklinge gezogen und vor das Gesicht gehoben.

Etrodai wartete aufmerksam und ein wenig beklommen. Das Klappern wurde dringlicher. Das trockene Klicken menschlicher Schädel, von denen die meisten infolge des Verfalls braun gefleckt waren, als seien sie lackiert, war durchaus erträglich. Die Geräusche der nicht-menschlichen Schädel waren schwerer zu ertragen. Sie schienen zu stammeln und zu husten, wie Vögel zu zwitschern und wie Uhren zu ticken, während zergliederte Kieferteile im Staub zuckten wie verwelkte Blätter. Einmal, als Er sich ausgeruht hatte, um eine Psi-Wunde auszukurieren, hatte sich Etrodai die langen Stunden der Untätigkeit mit dem Versuch vertrieben, die Schädel in der Prozession zu zählen. Bei ungefähr zehntausend hatte er aufgegeben. Sie hatten ihn immer wieder unterbrochen, und irgendwann hatte er den Faden verloren.

Ein leises Poltern, und die Onyxtür, so hoch wie fünf Männer und ebenso breit, glitt in das feuchte Mark ihrer Versiegelung zurück. Warme Luft seufzte durch die Öffnung. Die Knochen verstummten.

Er kam aus Seinem unantastbaren Gemach. Das Nullfeld knisterte rings um Ihn wie Oberflächenspannung.

»Magister«, sagte Etrodai, indem er die Klinge weiterhin in die Höhe hielt, seinen Blick jedoch respektvoll mied. »Wie lautet Euer Wille?«

»Ich hatte eine Psi-Audienz mit dem Archon und kenne nun seine Haltung in dieser Frage. Er sagt, wenn die Neuigkeiten stimmen, soll ich meinem Herzen folgen.« Seine Stimme war spröde, aber doch musikalisch, wie die Töne einer Unheilspfeife oder eines Sonoretts, und Etrodai schämte sich in ihrer Gegenwart immer seiner eigenen, hässlichen, mechanisch erzeugten Stimme. »Und mein Herz sagt mir, wir müssen dies zu unserer ersten Pflicht vor allen anderen Belangen machen. Was ist mit den Werkzeugen?«

»Sie sind versammelt, Magister. Auf dem Hinterdeck. Das heißt, alle, die zu versammeln ungefährlich war.«

»Ich spreche mit ihnen und stimme sie ein«, sagte Er und zögerte dann. »Aber zuerst … zuerst werde ich diese große Wahrheit noch ein letztes Mal begutachten.«

Etrodai war nicht überrascht. Er machte kehrt und ging durch die Prozession voran, wobei er jeden einzelnen Schädel in seinem Alkoven knirschen hörte, wenn er sich drehte, um Ihn vorbeigehen zu sehen.

Die Prozession, dunkel wie ein Grab und nur von alten, rissigen Lichtkugeln erleuchtet, war einen Kilometer lang. Am anderen Ende drehten ziegenköpfige Sklaven die eisernen Schlüssel und schwangen die hoch aufragenden Messingtüren auf. Die Sklaven schauten die Wände an und schluchzten verängstigt, damit sie auch nicht den flüchtigsten Blick von Ihm erhaschen konnten.

Sieben mal dreizehn Männer des Gefolges warteten im Vorzimmer unter der kuppelförmig gewölbten, vergoldeten Decke und den abblätternden Wandgemälden der Fünf Gräuel. Die Hacken ihrer schweren Stiefel knallten in einer perfekten Bewegung zusammen, als sie Haltung annahmen, und sie präsentierten ihre Waffe. Die angeflanschte Rüstung war blau-schwarz wie Etrodais, und ihre Köpfe waren unter Helmen mit breitem Nackenschutz und Visieren mit knollenförmigen insektenhaften Augengläsern verborgen.

Mit Etrodai an der Spitze, dessen Schwert zum Dach zeigte und nun bereits so lange entblößt war, dass Blutstropfen entlang seiner gezähnten Schneide hervorquollen, ordnete sich das Gefolge ein und marschierte als Eskorte mit, den rechten Arm gebeugt und um die geschulterte Waffe gelegt, während der linke Arm frei war und an der Seite wie ein Pendel hin und her schwang. Zwei Männer rannten voraus, um im ständigen Wechsel die Türen auf ihrem Weg zu öffnen.

Der Zugang zur Datenkrypta wurde durch einen Schutzschild versperrt, der in der Luft schillerte wie Öl auf Wasser. Er erlosch bei Seiner ersten Berührung. Jeder andere hätte daraufhin den Arm bis zum Ellbogen verloren. Das Gefolge wartete draußen, während Etrodai mit Ihm in die Krypta schritt.

In der Datenkrypta war es kalt und düster, und Bänder eines porösen Gewebes hingen darin wie versteinerte Sehnen. In den Leisten zwischen diesen Bändern waren Wörter aus einer vorimperialen Sprache geritzt. Ein nebliges, dunstiges Licht wallte um ihre Füße.

Die hier aufbewahrten Geheimnisse wisperten rings um sie und zischten wie Dampf oder Fett in einer Pfanne. Ihr Gemurmel war nicht so laut wie das Klappern der unzähligen Schädel in der Prozession, dafür aber beharrlicher und weitaus abstoßender. Widerliches Flüstern senkte sich über Etrodai, durchdrang die Rüstung und seinen Schädel und schlich sich in seinen Verstand, um ihm von Dingen zu erzählen, die er, sogar er, gar nicht wissen wollte.

Die Nachricht war auf einen Sockel unweit der Mitte der Krypta gelegt worden. Sie war aus den geschmolzenen Synapsen einer verbrauchten Sehergestalt gekämmt und in ihrer latenten Gedankenform belassen worden, um ihre Exaktheit zu bewahren. Dieses leuchtende Engramm war ein Lichtband, das auf einer wie eine Acht geformten Bahn einen teigigen Klumpen aus einer im Bottich gezüchteten Hirnmasse umkreiste, an die es um der besseren Fokussierung willen verankert worden war.

Etrodai blieb zurück, während Er zu dem Sockel ging und die Handschuhe von Seinen Händen entfernte. Die chromglänzenden Fäustlinge blieben an den Haltebändern Seiner Armschienen hängen, während Seine langen viergelenkigen Finger ins Licht glitten und das Gewebe mit lasziven Bewegungen zu kneten begannen. Das kreisende Lichtband geriet ins Stocken und brach, und dann flossen die leuchtenden Informationsstränge Seine ausgestreckten Arme und breiten Schultern empor und in den Hirnansatz.

Er seufzte, und Sein Kopf fiel in den Nacken. Licht kam aus Seinem Mund und warf einen winzigen Lichtfleck auf die Decke der Krypta.

Etrodai wartete …

Die langen Finger zogen sich zurück, und das Engramm strömte in seinen Orbit um den Gewebeklumpen zurück. Er streifte sich die Handschuhe wieder über.

»Ein Irrtum ist ausgeschlossen«, sagte Er. »Ich habe dies auf jede nur mögliche Art untersucht, die mir bekannt ist, und nach Erfindungen und Falschheit gesucht. Dies ist keine Lüge. Dies ist eine manifeste Wahrheit aus den Empfindungen des Immateriums.«

Die Vorstellung ließ Etrodai frösteln, und Er schien den Ausdruck im Gesicht Seines Lebenswarts zu bemerken.

»Mach dir keine Sorgen. Es hat zwar den Anschein, als sei dies ein schwerer Schlag für uns, aber ich glaube, dass es vielmehr unser perfekter Augenblick des Triumphs ist, den uns die schwachen Götterwesen der menschlichen Ordnung selbst in die Hände gespielt haben.«

»Dann frohlockt mein Herz, Magister«, sagte Etrodai.

Eine hochachtungsvolle Stille erwartete sie auf dem Hinterdeck. Das einzige Geräusch war das böige Zischen der Luftreiniger und das unterschwellige harmonische Summen des gewaltigen Warpantriebs zwanzig Decks tiefer. Das Hinterdeck war eine untergeordnete Landeplattform, die für den persönlichen Gebrauch des Magisters reserviert war. Sie überragte das längliche, fünfzehn Hektar messende gotische Gewölbe des primären Flugdecks für den Jagdschutz des kolossalen Flaggschiffs wie ein Riff. Die Geschwader waren während des Flugs sicher in ihren Hangars verstaut, und der hallende Raum unter ihnen war jetzt leer bis auf die Reihen der Tankwagen, elektrischen Munitionszüge und Startkatapulte, die wie geöffnete Krebsscheren von der hohen Decke hingen. Gelbliche Lampen blinkten in Reihen entlang der auf den ramponierten Boden aufgemalten Start- und Landebahnen.

Hier, in der Mitte der leeren Metallplattform, waren acht Wesen versammelt. Er hatte ausdrücklich neun verlangt, denn neun war, wie Er sagte, eine signifikante Zahl. Das Neunte war zu gefährlich für einen direkten Kontakt und hing in einem Nullfeld in der Einmündung des Haupthangars draußen vor dem Rumpf, durch Tele-Audienz-Relais mit den Vorgängen auf der Plattform verbunden.

Etrodai befahl dem Gefolge, an der Einstiegsluke zu warten, und stellte sich dann neben Ihn, als Er sich den versammelten Gestalten präsentierte. Mittlerweile war Etrodais entblößte Klinge so hungrig, dass ihm Blut von den Knöcheln tropfte und seine Arme schmerzten. Doch Etrodai würde seine entblößte Klinge erst wieder bedecken, wenn alles vorbei war.

»Ich habe eine Aufgabe für euch«, sagte Er. »Eine Aufgabe von großer Bedeutung. Ich vertraue sie euch neun an.«

Sie murmelten. Die Drillinge krochen umher und wanden ihre klamme graue Haut umeinander. Das andere Trio neigte die Köpfe. Die beiden Einzelnen blieben steif und unbewegt. Ein obszönes Krächzen von digitalem Schmutz knisterte von dem Ding in dem Nullfeld draußen über Kom herein.

»Ein Märtyrer. Einmal ein Märtyrer, immer ein Märtyrer. Unsere Feinde glauben, sie haben uns, also werden wir ihnen diese Überzeugung austreiben. Wir werden das hier nehmen, ihr letztes Aufflackern von Vitalität und es zu ihrem Grabgesang machen. Einer von euch wird diese Tat vollbringen. Mir ist egal, wer. Ihr werdet ihnen ihre neuerlichen Hoffnungen rauben und sie in den Staub treten. Dieses Vertrauen setze ich in euch.«

Wiederum murmelten sie, diesmal einen Eid des Versprechens.

»Seht mich an«, sagte Er.

Alle hatten mit dem Rücken zu Ihm gestanden, da sie sich davor fürchteten, Seine Gestalt direkt anzusehen. Jetzt drehten sie sich einer nach dem anderen zögerlich um. Die Drillinge zischten bei Seinem Anblick und würgten giftdurchweichte Klumpen ihrer letzten Mahlzeit hoch, die in ihren Kehlsäcken vorverdaut wurden. Das andere Trio wandte sich Ihm zu, doch nur sein Anführer, der Große mit den grünen Seidengewändern und der komplexen Körperkunst, sah Ihn erbleichend an. Der tätowierte Anführer war so groß und muskulös wie Etrodai, aber seine beiden Begleiter waren kleine, nicht richtig ausgeformte Wesen mit den morbiden blinden Augen von Psionikern. Die beiden Einzelwesen drehten sich ebenfalls um. Die Gestalt in der roten Rüstung des Blutpakts sank auf die Knie und betete unterdrückt. Der andere, die kadaverhaft bleiche Xeno-Brut in glänzendem Schwarz, gaffte nur.

»Gut«, seufzte Er. Er drehte sich um und starrte durch die Öffnung des Hauptdecks auf das Raubwesen, das in dem Nullfeld eingesperrt war. »Und du, Karess? Bist du bereit?«

Aus dem Nullfeld draußen ertönte ein brutaler Fluch über Kom. Er war ebenso originell wie anatomisch entsetzlich.

Er lächelte. Dies war das Einzige, was Etrodai nicht ertragen konnte. Das Lächeln seines Magisters war das Schrecklichste, was es in der gesamten Schöpfung gab. Er schauderte und hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

»In zwei Rotationen genau von jetzt an«, sagte Enok Innokenti, Magister und Kriegsführer, »wird das Signal kommen, und dann wird mein Heer über diesen Sternhaufen herfallen und das Feuer seiner Sonnen mit Blut auslöschen. Der Kreuzzug des Imperiums der Menschheit wird zusammenbrechen und um einen raschen Tod flehen.«

Er hielt inne. Er lächelte immer noch. »Im Schutz des Großangriffs wird die eigentliche Arbeit beginnen.«


EINS

Kurz vor Mitternacht

»Wie oft haben wir schon hier gestanden, Sie und ich, und das Gelände vor der Schlacht betrachtet? Wie oft haben wir gewonnen? Wie oft müssen wir verlieren, um all diese Siege und Ausblicke auf Siege zu verspielen? Einmal, alter Freund. Einmal. Ein einziges Mal. Nur einmal.«

– Kriegsmeister Slaydo vor Balhaut zu einem Adjutanten

 

»Ein schlimmer Tag steht bevor!«, rief der Mann laut. »Ein schlimmer Tag steht bevor! Ein schlimmer Tag ist im Anzug!«

Er war auf den Karren eines Almosenverteilers geklettert und ignorierte alle Versuche, ihn herunterzuziehen, während er mit ausgestreckten Armen und gekrümmten Fingern sowohl den Himmel als auch die langsam größer werdende Menge anschrie.

»Ein schlimmer Tag steht uns allen bevor! Ihnen! Und Ihnen, mein Herr! Und Ihnen auch, meine Dame! Neun weitere Wunden! Neun mal neun!«

Manche in der Menge buhten ihn aus. Andere beschrieben das Zeichen des Adlers oder der Beati, um etwaiges Pech abzuwehren, das er mit seinen Worten heraufbeschwor. Wieder andere, nahm Anton Alphant zur Kenntnis, hörten sehr aufmerksam zu.

Das Geschwafel des Mannes beinhaltete nichts Neues. Er und solche wie er in den Lagern hatten in den vergangenen Tagen regelmäßig derartige Szenen verursacht. Es war nicht gut für die Moral, und es machte die Pilgermassen ganz gewiss nicht beliebt bei den Stadtbehörden.

Almosenverteiler, deren Rang an den blauen Bändern ersichtlich war, die an ihren langen Staubmänteln flatterten, versuchten den Mann mit gutem Zureden vom Wagen zu holen. Seine Füße hatten bereits mehrere Säcke mit Getreideschnitten und Zwieback umgestoßen, die sie mitgebracht hatten, um sie im Lager zu verteilen. Ein Ayatani aus einer der Fremdwelt-Abordnungen hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt und hielt ein Gebetspaddel in die Höhe, während er dem Mann Segnungen zurief. Zwei Junior-Adepten der Ekklesiarchie hielten Zinnbecher in den Händen und benutzten ihre silbernen Aspergillen, um dem Laienprediger Wasser entgegenzuspritzen. Heiliges Wasser, war Alphant sicher, das sie sich für viel Geld aus den Weihwasserbecken des Heiligen Balneariums gekauft hatten.

Alphant schloss die Finger um die Ampulle mit heiligem Wasser in seiner eigenen Jackentasche. Er hatte einen schrecklich weiten Weg zurückgelegt, um es zu bekommen, und es hatte ihn sein letztes Geld gekostet. Er würde es nicht so großzügig vergeuden.

»Vielleicht sollten wir dafür sorgen, dass er aufhört«, sagte Karel.

»Wir«, lächelte Alphant. »Sie meinen mich.«

»Alle hören auf Sie.«

»Er hat ein Recht auf seine Meinung. Jeder Einzelne hier ist hergekommen, weil es ihm wichtiger war als alles andere. Sie können ihm seine Leidenschaft nicht verwehren.«

»Er jagt den Leuten Angst ein«, sagte Karel, und einige der anderen Infardi, die bei ihnen am Uhrenschrein standen, stimmten zu. »Es könnte unschön werden.«

Sie hatten recht. Mehrere Bußfertige in der Menge waren durch das Predigen des Mannes so in Rage geraten, dass sie damit begonnen hatten, sich zu geißeln. Das Spektakel hatte sogar die Aufmerksamkeit einiger Styliten in der Nähe erregt. Sie drehten sich auf ihren Säulenspitzen um und sahen zu, und manche riefen etwas über die Köpfe der Menge hinweg. Andere Pilgergruppen hatten ihre Uhrenschreine näher zu dem Wagen gekarrt oder getragen und richteten sie auf ihn, als könne ihn die Symbolik verstummen lassen.

Das schien ganz im Gegenteil alles nur noch schlimmer zu machen.

»Kurz vor Mitternacht, und dann dämmert der schlimme Tag! Feuer regnet vom Himmel, und das kostbare Blut wird vergossen!«

»Können Sie ihn nicht zum Aufhören bewegen, Alphant?«, fragte Valmont.

»Ich bin kein Priester«, sagte Alphant. Wie oft hatte er das schon gesagt? Er war nur ein Landarbeiter von Khan II, der die Pilgerreise hierher unternommen hatte, als die Nachricht bekannt geworden war, weil es ihm richtig vorkam. Unterwegs – und es war eine anstrengende Reise gewesen – war er irgendwie zum nominellen Anführer der Gruppe geworden, mit der er reiste. Sie wandten sich an ihn, wenn sie einen Rat brauchten, mehr denn je, seitdem sie die kalte, karge Realität der Lager erreicht hatten. Er hatte nie um diese Verantwortung gebeten.

Natürlich hatte sie auch nie um ihre gebeten.

Alphant hatte keine Ahnung, woher dieser jähe, ernüchternde Gedanke kam. Aber er reichte, um seine Meinung zu ändern, Karel seinen Teller und sein Brevier zu reichen und zu dem Spektakel zu gehen.

Er hatte gerade drei Schritte gemacht, als jemand aus der Menge einen Quarzklumpen nach dem eifernden Mann warf. Er traf nicht, doch andere folgten seinem Beispiel. Einer traf den Prediger an der Stirn, der daraufhin schwankte und von der Ladefläche des Wagens fiel.

»Verdammt!«, fluchte Alphant.

Die Menge drehte durch. Kämpfe brachen aus, und mehr Wurfgeschosse flogen – Steine, Ampullen, Segensflaschen. Der Almosenkarren kippte mit lautem Krach um, und Leute fingen an zu kreischen.

Alphant zog den Kopf ein und drängte sich durch die wogende Meute. Den unglücklichen Prediger würde man in diesem Chaos zerreißen, und einen Toten konnte das Lager ganz gewiss nicht brauchen. Alphant war immer noch ein starker Mann, und er stellte fest, dass er sich noch an einige der alten Techniken erinnerte. Jedenfalls reichte es, um die lautesten Randalierer auf seinem Weg in die Schranken zu verweisen. Nichts allzu Bösartiges, nur hier und da ein kleiner Druck auf einen Nervenknoten.

Er erreichte den umgestürzten Karren und blieb stehen, um drei schreiende Infardi daran zu hindern, einen der Almosenverteiler zu erwürgen. Dann hielt er nach dem Prediger Ausschau, der all das ausgelöst hatte.

Und sah etwas Erstaunliches.

Der Prediger saß auf dem harten Boden, beide Hände an die Stirn gepresst. Blut sickerte durch seine Finger, befleckte seine Gewänder und hinterließ dunkle Flecken im Staub. Er war nicht in der Verfassung, sich zu schützen.

Doch niemand rührte ihn an. Ein Mädchen, jung, nicht älter als achtzehn, stand vor ihm. Das hagere, blasse Gesicht schaute zuversichtlich, der Ausdruck in den grünen Augen war weich. Die junge Frau hatte eine Hand ausgestreckt, die Handfläche nach vorn, um sich den Tumult vom Leib zu halten. Jedes Mal, wenn etwas davon in ihre Richtung wogte, bewegte sie die Hand in diese Richtung, und dann wichen die Leute zurück. Auf diese Weise wahrte sie einen kleinen Kreis der Ruhe rings um den Prediger und hielt eine Menge in Schach, die es nach seinem Blut gelüstete.

Er ging zu ihr. Sie sah ihn an, richtete jedoch nicht die Hand gegen ihn, als erkenne sie seine friedlichen Absichten.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Alphant.

»Dieser Mann braucht welche«, sagte sie. Ihre Stimme war dünn, aber er hörte sie dennoch über den Lärm hinweg. Er kauerte sich neben sie und untersuchte die Wunde des Predigers. Sie war tief und verschmutzt. Er riss einen Streifen von seinem Hemd ab und benetzte ihn mit Wasser aus seiner Ampulle, ohne auch nur einen Gedanken an die Kosten zu verschwenden. Heilte es nicht angeblich alle Wunden?

»Ein schlimmer Tag steht uns bevor«, murmelte der Mann, während Alphant das Blut abwischte.

»Das reicht jetzt«, sagte Alphant. »Was dich betrifft, ist er bereits da.« Er fragte sich, wie lange das zierliche Mädchen die Meute noch aufhalten konnte. Er fragte sich, wie sie es überhaupt machte.

»Wie heißt du?«, fragte er sie.

»Sabbatine«, sagte sie. Darüber musste er lachen. Namen von Heiligen und deren Abwandlungen waren in diesem Teil des Imperiums sehr gebräuchlich, und es gab, wie man sich denken konnte, eine überproportional hohe Zahl von Sabbats, Sabbatas, Sabbatinen, Sabbeenen, Battendos und so weiter in den Lagern. Doch für sie kam ihm der Name äußerst passend vor.

»Ich glaube, er hat recht«, sagte sie.

»Was?«

»Ich glaube, dass etwas Schlimmes passieren wird.«

Die Art, wie sie das sagte, war weitaus beunruhigender als der gesamte irre Vortrag des Predigers.

»Du meinst so etwas wie einen neuen Angriff? Wieder die Piraten?«

»Ja. Bringen Sie sich in Sicherheit.«

Alphant fragte nicht weiter. Er schob die Hände unter die Achselhöhlen des Predigers und zog ihn hoch. Als er den schwankenden Mann aufgerichtet hatte, ging ihm auf, dass das Mädchen verschwunden war.

Und das Wesen des Tumults ringsumher hatte sich verändert. Es war kein Aufruhr mehr. Es war eine Panik. Leute flohen laut schreiend und fielen übereinander bei dem Versuch wegzukommen. Etwas brannte. Über dem Lager Eisenhalle stand Rauch tief am Himmel.

»Ein schlimmer Tag …«, gurgelte der blutverschmierte Mann.

»Ja«, sagte Alphant. Er hatte soeben ein Geräusch gehört, das er seit zwanzig Jahren nicht mehr vernommen hatte, seitdem er sein Serie IV zurückgegeben, das Rangabzeichen in einer Kommodenschublade verstaut und sich mit der Abschlagszahlung bei seinem Abschied aus der Garde ein schönes kleines Stück Ackerland im Land-Kollektiv im Westen der Primär-Makropole von Khan II gekauft hatte. Das zischende Knistern eines Lasergewehrs.

 

In den Lageberichten der Zentrale war von einem soeben angelaufenen Ketzer-Überfall auf das Pilgerlager im Westen des Eisenhallen-Pylonen die Rede, und tatsächlich stieg eine dicke Rauchwolke über der Gegend auf, die zusätzlich und ominös von den Blitzen schießender Waffen untermalt war.

Doch während Udol mit seinem ruckenden Transporter durch Gildenhang und den ohrenbetäubenden Lärm der von Panik erfüllten Vorstadt fuhr, erblickte er dichte braune Dampfwolken, die über der Obsidae östlich vom Simeon-Aquädukt wallten.

»Ist das das Aquädukt?«, rief er.

»Augenblick, Herr Major!«, antwortete der Kom-Offizier, der durch die verrostete Dachluke des Transporters in das Gefährt sprang, um die Taktik-Station zu bemannen.

»Es ist das Aquädukt, Herr Major!«, rief der Signalmann kurz darauf.

»Was?«

»Das Aquädukt und die Obsidae auf der anderen Seite!«

Ihr Helmkom war auf volle Lautstärke gestellt, aber es war trotzdem fast unmöglich, einander bei dem Hintergrundlärm zu verstehen. Die Motoren der Truppentransporter heulten, und die Menschenmengen in den Straßen jammerten und schrien. Gorgonaut, der große Gebetsverstärker am Nordende von Prinzipal I, dröhnte aus seinem uralten Turm den Himmel an. Udol war sicher, außerdem das Krachen entfernter Detonationen und das zischende Klatschen von Einschlägen in den Schutzwall des Außenschilds zu hören. Es ging wieder los, den vierten Tag hintereinander.

Udol glitt in den Transporter und drehte seinen Metallsitz ein wenig, sodass er dem Signalmann über die Schulter und auf den Taktikschirm schauen konnte.

»Was sagt die Zentrale dazu?«

»Darüber gar nichts, Herr Major. Wir sollen zur Eisenhallen-Zone. Hauptmann Lamm ist bereits in Kämpfe verwickelt. Ein Ketzer-Überfall aus dem Ödland. Er …«

»Von Osten kommen sie auch«, murmelte Udol. Er drehte am Frequenzwähler seines Korns. »Pento? Hier Udol. Nehmen Sie die Sechs mit und kümmern Sie sich um Lamm. Sieben und Acht? Begleiten Sie mich.«

Einwände und mehrere Ersuchen um Erläuterungen knisterten in seinem Helm, doch Udol ignorierte sie. Er tippte seinem Fahrer auf den Arm und zeigte in eine Richtung.

Der Transporter schwenkte gehorsam nach Osten und teilte dabei die umherlaufenden Menschenmengen mit beständigem Jaulen seiner Warnsirenen. Zwei andere Einheiten aus der Kolonne schwenkten mit nach Osten. Sie verließen Gildenhang und holperten über einen mit Kies aufgeschütteten Verbindungsweg im Schatten der hohen Gebäude auf beiden Seiten. Am Ende der Verbindung rahmten die Gebäude ein Himmelsrechteck ein, das mit Rauchwolken befleckt war.

Von niedrigen Habs flankiert, erreichten sie Prinzipal VI und überquerten die breite Allee, bis sie die hoch aufragenden Ziegelbögen des Simeon-Aquädukts vor sich hatten. Auf der anderen Seite jenes gewaltigen Bauwerks lag die offene Weite eines Glasfelds. Wie so viele leere Plätze am Stadtrand war das Gebiet in den letzten zwei Monaten zu einer Pilgerstadt geworden und bestand aus einem Meer einfacher Zelte, Überlebenskuppeln und hastig errichteter Uhrenschreine. Eine weitere provisorische Ausdehnung der Stadtgrenzen, um den massiven Zustrom von Gläubigen aufnehmen zu können.

Schmutziger brauner Rauch wallte durch die gesamte Lagerstatt und durch die Bögen des Aquädukts. Schmutzige Pilger mit Kindern und Habseligkeiten strömten mit ihm nach draußen.

»Irgendein verdammter Infardi hat in seiner Begeisterung einen Brenner umgestoßen«, sagte der Signalmann. »Im Kiodrus-Lager ist das letzte Woche auch schon passiert. Ganze Zeltreihen sind verbrannt und …«

»Ich glaube nicht, dass es das ist, Inkerz«, schnauzte Udol. »Fahrer! Bringen Sie uns da durch!«

Der Fahrer schaltete in den niedrigsten Gang und steuerte den Transporter durch den nächsten Bogen des Aquädukts auf die Obsidae. Praktisch sofort zermalmten sie Zelte und Unterstände unter ihren schweren, soliden Rädern. Hektische Pilger flossen auf ihrer Flucht aus dem Gebiet um das Fahrzeug herum, wobei sie mit den Fäusten gegen die gepanzerten Flanken hieben und sie anflehten anzuhalten.

»Kein Durchkommen, Herr Major«, sagte der Fahrer, der auf die Bremse trat. »Es sei denn, Sie wollen sie, na ja, über den Haufen fahren.«

»Alles raus!«, befahl Udol. »Fächerformation! Beeilung!«

Die Seitenluken aller drei Truppentransporter öffneten sich scheppernd, und die Soldaten stiegen aus, fünfzehn aus jedem. Sie bahnten sich einen Weg durch die Menge, wobei sie die Waffen nach oben gerichtet hielten. Udol wartete, bis Inkerz ihm den kompakten Treibmitteltank auf den Rücken geschnallt und den Schlauch befestigt hatte, dann setzte er sich an die Spitze seiner Männer. Er hob den gepanzerten linken Arm, drückte auf den Bügel in seiner Handfläche und jagte einen kleinen Feuerstoß in die Luft, sodass sie ihn in dem Gewühl ausmachen konnten. Sobald er ihre Aufmerksamkeit hatte, ließ er sie nach links und rechts durch den Wald der Zelte und das Durcheinander persönlicher Habseligkeiten ausschwärmen.

Fünfzig Schritte weiter war die Barackenstadt beinahe ausgestorben. Der Rauch war dichter. Udol war entsetzt, aber nicht überrascht über die erbärmlichen Verhältnisse, in denen die Pilger lebten. Müll, Schutt und Unrat lagen auf den schmalen Wegen, die sich zwischen den jämmerlichen Zelten durchwanden. Es war schwierig, mehr als ein paar Meter weit in irgendeine Richtung zu schauen. Abgesehen von dem Rauch und den Unterständen gab es überall Uhrenschreine. Keine Zwei waren identisch, aber sie folgten alle demselben Grundmuster: irgendein Zeitmessgerät – Wecker, Wanduhr, Armbanduhr, mechanisches Stundenglas – war in einen selbst gefertigten Holzkasten eingelassen, und je größer und bunter bemalt, desto besser, so schien es. Er betrachtete einen in der Nähe. Ein Holzkasten so hoch wie ein Mensch mit Jalousien aus wiederaufbereitetem Blech am oberen Ende, die geöffnet waren und den Blick auf das Zifferblatt freigaben, war mit Industrienägeln auf einem Holzkarren befestigt. Das Ding war golden und silbern und stellenweise grün gestrichen, und die Holzkiste war mit mehreren Lagen Plastikfolie umwickelt. In dem aufrechten Kasten hing ein stationäres Pendel herab, das mit Trockenblumen, Kristallen, Andenken, Münzen und hundert anderen Opfergaben geschmückt war. Oben, innerhalb der Jalousien, waren das alte Zifferblatt und die Zeiger grün angesprüht und dann die Ziffern und die Zeigerspitzen golden lackiert worden. Die Zeiger standen auf kurz vor Mitternacht.

Major Udol wusste ganz genau, was das bedeuten sollte.

Er ging um den Schrein und winkte die Soldaten hinter sich näher. Die Pilgerzelte voraus brannten munter. Schmutziggelbe Flammen leckten über Zeltstoff, loderten in die morgendliche Luft und sonderten dichten, dunklen Qualm ab. Udol sah einen Uhrenschrein im Herzen des Feuers nachgeben und umfallen.

Der Soldat neben ihm sprang plötzlich zurück, als sei er überrascht. Dann tat er es noch einmal und fiel auf den Rücken.

In die Brust getroffen, zweimal. Udol brauchte nicht hinzusehen.

Er blaffte eine hastige Warnung in sein Helmkom. Die Männer in seiner Nähe sprangen in Deckung. Zwei Drittel von ihnen schafften es. Die Schweine hatten ihnen aufgelauert.

Udol duckte sich in die relative Sicherheit eines umgestürzten Tiefladers, während Energiestrahlen über ihn hinwegzischten. Einer seiner Männer in der Nähe schaffte es in die scheinbare Deckung eines Plastikzelts und fiel dann auf die Seite, als ein Laserstrahl durch die Zeltbahnen fegte und seinen Hinterkopf durchbohrte. Ein anderer Mann schaffte es nicht mehr in eine Deckung und wurde von einem Laserstrahl umgeworfen. Er ging schwer zu Boden und fing an zu kriechen, bis ihn ein anderer Schuss im Gesicht traf.

Udol spürte, wie sein Puls raste. Er erhaschte eine Bewegung auf dem Weg neben dem Feuer, zog die Laserpistole und jagte ein paar grell leuchtende Energiestrahlen durch den schmalen Korridor. Die Soldaten rings um ihn eröffneten ebenfalls das Feuer.

»Inkerz!«, rief Udol über Kom. »Verständigen Sie die Zentrale. Geben Sie Bescheid, dass ein weiterer heftiger Angriff direkt hier unter dem Aquädukt im Gange ist!«

»Verstanden, Herr Major.«

Und heftig war er tatsächlich und wurde immer heftiger. Udol zählte mehr als vierzig Feinde da draußen zwischen den aufgegebenen Zelten. Er erhaschte einen Blick auf einfarbig rote Rüstungen und Staubmäntel. Sie entsprachen den Beschreibungen der Feinde, die in den letzten vier Tagen überall in den Außenbezirken der Stadt zugeschlagen hatten. Ketzerische Fanatiker, die so sicher von der Stadt angezogen wurden wie die Pilger und nur darauf aus waren, die Wahrheit, die hier geschah, zu leugnen, während die Pilger bestrebt waren, sie zu feiern. Marschall Biagi hatte Udol persönlich verraten, dass es sich bei den Feinden höchstwahrscheinlich um militante Kultisten von einer Welt ihres Sternhaufens handelte. Sie waren im Schutz des Zustroms der Pilgermassen auf den Planeten gelangt, um Terrorangriffe auf die Stadt zu unternehmen.

Die Schweine konnten kämpfen. Diszipliniert kämpfen, und genau das machte sie so unheimlich. Udol hatte schon oft Scharmützel mit Warp-Abschaum ausgetragen – und hatte auch die Narben, die es bewiesen –, und jedes Mal hatte die militärische Strenge des Imperiums über den Fanatismus der Eiferer triumphiert.

Vielleicht war jetzt das Imperium an der Reihe, den Fanatischen zu spielen, überlegte Udol. Jeder Uhr in Sichtweite nach zu urteilen, hatte ihre Stunde geschlagen. Jedenfalls hatten sie nun etwas, um dessentwillen sie fanatisch sein konnten.

Plötzlich kam Wind auf und trieb die Qualmwolken nach Norden. Ein Großteil der feindlichen Stellungen zwischen den Zelten wurde abrupt sichtbar. Udol gab seinen Schützen Anweisungen und begann mit systematischem Gegenfeuer. Seine Männer deckten das Gewirr der Zelte und Unterstände mit einem Feuerhagel ein und drangen dann tief geduckt weiter in die Zeltstadt vor.

Eine Waffe zischte ganz nah bei Udol, und der Mann links von ihm fiel auf die Reste einer Überlebenskuppel. Udol fuhr herum, schoss und traf den Feind direkt in das knurrende Eisenvisier vor dem Gesicht. Bevor die Beine unter dem Leib dieses Schweins nachgeben konnten, stürmten bereits zwei weitere wild um sich schießend aus ihrer Deckung. Udol ließ sich auf ein Knie sinken, streckte den linken Arm aus und drückte den Bügel in seiner Hand nieder. Ein langer Speer aus weißglühendem Feuer sprang aus der Düse des Brenners hinter den Knöcheln seines Panzerhandschuhs und brach sich an ihren Leibern. Beide schwankten, als sie in lodernde Flammen gehüllt wurden und schrien. Die Hitze ließ die Magazine im Koppel des Ersten hochgehen. Die Explosion riss ihm in einem sengenden Blitz die Arme und den Rumpf von den Beinen und fällte seinen Kameraden, der sich windend und brennend auf dem Boden liegen blieb. Udol ging zu ihm und exekutierte ihn mit einem Schuss aus seiner Laserpistole.

»Farenx. Beresi. Im Laufschritt vorwärts«, befahl Udol den Männern hinter sich. Sie waren jetzt nicht mehr weit vom Rand der Zeltstadt entfernt, und der Feind ließ sich rasch zurückfallen. Nur Ketzer, dachte Udol. Verrückte Kultisten, die den Glauben und die Entschlossenheit der Stadt mit ihren feigen Terror-Angriffen auf die Probe stellten. Genau das, was zu bekämpfen das Regiment Civitas Beati aufgestellt worden war.

Doch als er den Rand der Zeltstadt erreichte, ging ihm auf, dass er sich irrte. Es war mehr als das, viel mehr. Der freie Blick auf die Obsidae lag vor ihm: eine ebene, kalte Wüste aus grauem Bimsstein und Staub, die mit schwarzen Flecken aus vulkanischem Glas gesprenkelt war. Sie erstreckte sich drei Kilometer weit nach Norden in Richtung Gnadenschlucht und den düsteren Klippen der Trockenberge.

Drei Fahrzeuge näherten sich der Pilgerstadt. Schleichpanzer. Ihnen folgte eine breit gefächerte Linie von über zweihundert Feinden zu Fuß in mattroten Staubmänteln. Seit wann verfügten fanatische Kultisten über Panzer? Seit wann griffen sie wie eine militärische Streitmacht an?

»Ach, Scheiße!«, hörte Udol sich sagen. »Rückzug! Sofortiger Rückzug!«

Die Schleichpanzer huschten näher wie Spinnentiere.

Jeder hatte sechs kolbengetriebene Beine, die den flachen Rumpf trugen. Udol konnte die Fahrer in den tief unter dem Schwanz hängenden Blasen erkennen. Auf jedem erhöhten Kopf drehten sich zwei Minitürme und eröffneten das Feuer.

Die flammenden Salven kamen in konstanten Wellen, da die Läufe der Doppellaser in jedem Miniturm in brutalem, automatisiertem Rhythmus abwechselnd feuerten. Udol sah, wie Beresi entzweigeschnitten und drei andere Soldaten von den Druckwellen naher Einschläge von den Beinen geholt wurden. Explosionen schleuderten Bimsstein und Obsidiansplitter in die Luft. Funkelnde Lichtblitze flackerten in der vorrückenden Reihe der blutroten Soldaten auf, als diese ebenfalls das Feuer eröffneten. Udol warf sich in Deckung. Er hörte Männer, die er seit seiner Kindheit kannte, die letzten Worte in ihre Atemmasken schreien.

Er tat das Einzige, was ihm einfiel. Er betete zur Heiligen.

 

Fünfzehn Kilometer weiter südlich, in den obersten Etagen der Innenstadt, stimmte sich der unsterbliche Chor ein. Rampshel, der Chorleiter, humpelte hin und her, schwenkte seinen Taktstock und rief den zweiten Stimmen zu, sich »endlich auf eine Tonhöhe zu einigen, um Terras willen«. Die Kinder in der ersten Reihe, einige von ihnen nicht älter als sechs Standardjahre, zappelten in ihren offiziellen Rüschen und Gewändern herum und starrten in die Ferne. Weihrauchdämpfe erfüllten die kühle Luft, und die Tempelsklaven stellten unter Anleitung des Hohen Ekklesiarchen und seiner schwarz berobten Pröbste die letzten der goldenen Reliquienbehältnisse auf.

»Beinahe geschafft, erster Offiziar«, versicherte Rampshel, während er auf seinen Gehstock mit dem Silberknauf gestützt vorbeihinkte. »So gut wie beinahe geschafft.«

»Sehr gut, Chorleiter. Weitermachen«, sagte Bruno Leger, der gewählte erste Offiziar von Beatistadt. Er war ein kleiner Mann mit einem kahl rasierten Schädel und einem ordentlich gestutzten Kinnbart. Er legte sich mit einer gezierten Bewegung den Amtsumhang um die Schultern und vergewisserte sich noch einmal, dass sein Amulett auch mitten auf der Brust hing. Neben ihm verschränkte Marschall Biagi die massigen Arme und seufzte.

»Wir sind gut«, murmelte der erste Offiziar. »Sind wir gut?«

»Sehr gut, erster Offiziar«, erwiderte Biagi.

»Sind wir? Ausgezeichnet. Hervorragend. Ich meine, ist das … Ihr wisst schon … ausreichend?«

»Es ist wunderbar, erster Offiziar«, sagte Biagi. Er glättete seine Regimentsschärpe. »Wenn der verdammte Chor den Ton trifft, werden wir alle strahlen.«

»Singen sie falsch? Ja? Falsch?« Der erste Offiziar Leger reckte den Hals und legte eine Hand hinter das Ohr. »Sie singen falsch, nicht wahr? Ich muss doch mal ein ernstes Wort …«

»Herr Offiziar, bitte«, sagte Ayatani Kilosh, der eine knorrige Hand aus den Falten seines langen blauen Seidengewands zog und sie beruhigend auf Legers Arm legte. »Alles ist absolut perfekt.«

»Ist es das? Ist es perfekt? Gut. Hervorragend. Warum gehen diese kleinen Jungen weg? Müssten die nicht in der ersten Reihe des Chors stehen?«

»Rampshel wird sich darum kümmern, Herr Offiziar«, sagte Biagi.

»Wird er das? Ich hoffe es. Ich will, dass alles perfekt ist. Wir empfangen hier und heute Helden. Veteranen. Ihr Ruf eilt ihnen voran.«

»Das tut er gewiss, Herr Offiziar«, sagte Ayatani Kilosh.

Ein Schatten huschte über sie hinweg und verdunkelte vorübergehend die Oberlichter der offiziellen Andockterrasse. Alle spürten die Erschütterung des Aufsetzens.

»Nun, da sind sie«, sagte Leger.

Rampshel hob die Arme, und der Chor begann zu singen. Er dirigierte die Sänger energisch, während sich die Innenschleusen der Terrasse öffneten und Dampf hereinzischte.

Erster Offiziar Leger wusste nicht recht, was er zu erwarten hatte, außer dass es etwas Heroisches war. Die Chorsänger hielten ihre Antiphonalien vor sich und schmetterten aus vollem Halse die Große Fürbitte an die Beati. Außerdem trafen sie praktisch jeden Ton.

Zwei Gestalten kamen aus dem Dampf geschlendert. Sie kamen Seite an Seite. Ein zwielichtiger Mann mit einem hübschen Gesicht und den Augen eines Witzboldes und eine schlanke Frau mit gebleichten Stoppelhaaren und einer rotzig-arroganten Art. Beide trugen mattschwarzen Drillich und ebensolche Rüstung. Beide hatten ein Lasergewehr locker über der Schulter hängen. Der Mann hatte eine künstliche Schulter und zwinkerte, als er Leger sah. Die Frau trug eine mit Pelz abgesetzte Bomberjacke und trug ihr Lasergewehr horizontal, sodass der rechte Arm in der Nähe des Abzugs hängen konnte, während der linke lässig darauf lag wie auf dem geöffneten Seitenfenster eines Schwebers.

Sie marschierten auf die Andockterrasse und ignorierten die Bemühungen des Chors dabei völlig.

Leger trat vor. »Im Namen des Volkes von …«

Der Mann mit dem augmetischen Implantat drehte sich um, lächelte und legte einen Finger auf die Lippen. Hinter ihm beendete die Frau ihre Begutachtung der Umgebung und hob eine Hand an ihr Kom-Gerät.

»Alles sauber«, hörte Biagi sie sagen. »Sie können aussteigen.«

Eine Silhouette erschien in der Schleuse, die zunächst nur vom Dampf hinter ihr beleuchtet wurde. Eine imposante Gestalt in einem langen Mantel und einer Schirmmütze auf dem Kopf. Erster Offiziar Leger hielt erwartungsvoll die Luft an.

Die Gestalt trat ins Licht. Ein hochgewachsener, hagerer Mann in der Felduniform eines Kommissars, doch auf seinen Epauletten waren die Rangabzeichen eines Obersten zu sehen. Sein Gesicht war hart und schmal. Er ging die Rampe hinunter bis zu den drei Würdenträgern, kniete vor dem ersten Offiziar nieder und nahm die Mütze ab.

»Ibram Gaunt, Erstes Tanith, meldet sich wie befohlen zur Stelle«, sagte er.

Dies war also der berühmte Gaunt, dachte Biagi. Er war nicht sonderlich beeindruckt. Gaunt und seine Männer, hatte er in den Akten gelesen, waren Frontsoldaten. Ihnen haftete gewiss dieser Geruch nach tollwütigem Hund an. Nicht stubenrein. Biagi hatte ernsthafte Zweifel, dass sie sich für die Aufgabe eigneten, die sie erfüllen sollten.

Gaunt erhob sich.

»Willkommen, willkommen, Kommissar-Oberst«, sagte Leger, während er Gaunt zaghaft um die Schultern fasste und ihn auf die Wangen küsste. Er musste sich dafür auf die Zehenspitzen stellen. Gaunt schien den Brauch so zu tolerieren, wie ein Wachhund das gelegentliche Kraulen zwischen den Ohren hinnimmt. Leger begann mit einer ausführlichen, längeren Willkommensansprache in Hochgotisch.

»Sie scheinen um Ihre Sicherheit besorgt zu sein«, unterbrach Biagi mit einem Nicken in Richtung der beiden Soldaten, die das Landungsboot vor Gaunt verlassen hatten. Gaunts Augen verengten sich, und er sah Biagi fragend an.

»Marschall Timon Biagi, Befehlshaber der Planetaren Streitkräfte und der Regimenter der Milizen.«

Gaunt salutierte. »Meine Sergeanten hier haben darauf bestanden«, sagte er, indem er auf das wartende Paar zeigte. »Bei unserem Landeanflug wurden wir davon in Kenntnis gesetzt, dass ein Angriff im Gange sei.«

»Am Stadtrand, nicht hier«, erwiderte Biagi. »Meine Truppen haben ihn eingedämmt. Wir haben ein kleineres Problem mit ketzerischen Dissidenten. Ihre Sicherheit war nicht bedroht.«

»Wir ziehen es vor, uns von solchen Dingen selbst zu überzeugen«, sprach der weibliche Sergeant Biagi direkt an.

»Criid«, mahnte Gaunt leise.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte sie. »Wir ziehen es vor, uns von solchen Dingen selbst zu überzeugen, Herr Marschall.«

Biagi grinste. Anscheinend hatte der berühmte Rudelführer nicht einmal seine eigenen Hunde im Griff. Er betrachtete die Frau – Criid, nicht wahr? – von oben bis unten und sagte in spöttischem Tonfall: »Eine Frau?«

Sie fixierte Biagi, ohne zu blinzeln, und erwiderte dann die Musterung. »Ein Mann?«, sagte sie.

Der männliche Sergeant mit der künstlichen Schulter gluckste.

»Mund halten, Varl«, sagte Gaunt. Er wandte sich an Biagi. »Lassen Sie uns die Sache nicht falsch angehen, Marschall«, sagte er. »Ich erteile meinen Leuten keinen Verweis, weil sie pflichtbewusst sind.«

»Wie ist es mit unpassenden Bemerkungen?«

»Selbstverständlich. In dem Augenblick, wenn ich eine höre.«

»Nun, es ist wunderbar, Sie hier zu haben!«, sagte der erste Offiziar in einem jähen Ausbruch falscher Begeisterung und eindeutig bemüht, die peinliche Situation zu überspielen. »Nicht wahr? Außerordentlich wunderbar?«

»Ich bin hier, weil mich der Kriegsmeister persönlich hierher befohlen hat«, sagte Gaunt. »Es bleibt abzuwarten, was sonst noch wunderbar daran ist.«

»Ich muss sagen, Kommissar-Oberst«, meldete sich Kilosh zum ersten Mal zu Wort, »dass mich diese Bemerkung bestürzt.« Wenngleich hochgewachsen, war er ein sehr alter Mann, doch sein Blick strahlte mehr Kraft und Selbstbewusstsein aus als der des Marschalls und des ersten Offiziars. »Sie könnte leicht als Ketzerei ausgelegt werden.«

Gaunt versteifte sich und sagte bedächtig: »Nichts dergleichen lag in meiner Absicht. Ich habe mich nicht auf das Wunder bezogen, das hier stattgefunden hat, sondern ich meinte die ernsten Konsequenzen, die so etwas zur Folge haben könnte.«

Kilosh nickte, als sei er beschwichtigt. »Wir sind uns schon begegnet«, begann er.

»Ich erinnere mich, Ayatani Kilosh«, sagte Gaunt mit einer knappen, förmlichen Verbeugung. »Vor drei Jahren siderischer Zeit. Auf Hagia, in Doktrinopolis. Eine kurze Begegnung, aber es wäre unhöflich von mir, mich nicht mehr daran zu erinnern. Ihr König, Infareem Infardus, war tot, und ich war der Überbringer dieser schlechten Nachrichten.«

»Das war ein düsterer Augenblick in der Geschichte Hagias«, stimmte Kilosh zu, der sich durch Gaunts präzise Erinnerung geschmeichelt fühlte. »Und eine schlimme Zeit für meinen heiligen Orden. Aber die Zeiten haben sich geändert. Das Wunder ist geschehen. Die Galaxis ist jetzt ein strahlenderer Ort, und Sie verdienen Dank für Ihren Anteil daran.«

»Für meinen Anteil?«

»Die Bemühungen Ihres Regiments. Sie haben die Schreinfeste beschützt und den Feind vertrieben. Deswegen sind Sie hier.«

»Sie haben mich angefordert?«

»Nein, Kommissar-Oberst«, lächelte Kilosh. »Sie hat es getan.«

Gaunt zögerte und strich sich nachdenklich mit den Fingern über das hagere Kinn. »Ich würde mich freuen, mich eingehender mit Ihnen über dieses Thema zu unterhalten, Ayatani-Vater«, sagte er. »Aber zuerst hätte ich gern die Erlaubnis des ersten Offiziars … und des ehrenwerten Marschalls … meine Leute unterzubringen.«

Leger nickte eifrig und machte eine knappe Verbeugung. Gaunt wandte sich ab und ging zu den Andockschleusen zurück.

»Was halten Sie von ihm?«, flüsterte Kilosh.

»Nicht genug, um darüber nachzudenken«, sagte Biagi.

»Er scheint ein anständiger Kerl zu sein«, sagte Leger fröhlich. »Nicht wahr? Ein anständiger Kerl?«

»Oh, ich glaube schon«, sagte Kilosh. »Fast zu anständig. Und da könnte es Probleme geben. Es kommt mir beinahe so vor, als glaubte er nicht.«

»Dann muss er dazu gebracht werden, zu glauben«, sagte Biagi. Er hielt inne, als er einen stämmigen Mann in der Uniform eines Front-Kommissars aus einer der Schleusen treten sah. »Entschuldigen Sie mich«, sagte er und ging davon.

 

Tanither strömten auf das Sammeldeck. Während er über den Metallboden marschierte, sah Biagi, wie sich Schleuse um Schleuse entlang der Schmuckterrasse öffnete. Männer und auch Frauen in schmutzig-schwarzem Drillich und mit Tarnumhängen um die Schultern verließen die Flotte der Landungsboote und schleppten Kisten mit Munition, Material und ihre persönlichen Habseligkeiten in Seesäcken. Ein Geruch haftete ihnen an. Der Geruch nach Dreck, Fyzelen und Prometheum-Gel, den kein Bad und keine Dusche abwaschen konnte. Die Schatten anderer Landungsboote huschten über die Oberlichter der Terrasse, und das Krachen und Scheppern zupackender Landeklauen war zu hören. Dampf wurde durch Gitter im Boden abgelassen.

Die Neuankömmlinge machten höflich einen weiten Bogen um Biagi. Er war ein hochrangiger Offizier und außerdem eine imposante Gestalt. Kahlköpfig und mit dunkelolivfarbener Haut und bernsteinfarbenen Augen, trug er die Galauniform des Stadt-Regiments: glänzendes braunes Leder mit eingearbeiteten Verzierungen aus Golddraht. Der linke Arm und die Brust waren mit polierten, segmentierten Panzerplatten bedeckt, und auf dem Rücken, unter der scharlachroten Schärpe, trug er seinen Brennstofftank.

Biagi blieb stehen, als er auf drei Soldaten stieß, die eine Palette mit Prometheumtanks durch eine Landeschleuse zogen.

»Sie. Was ist das?«

»Herr Marschall?«, sagte der Nächste, ein flegelhafter Bär mit einem struppigen Schnurrbart.

»Wie heißen Sie?«, fragte Biagi.

»Soldat Brostin, Herr Marschall«, sagte der Bär. Er zeigte auf seine Kameraden. »Das hier sind Lubba und Dremmond.« Die beiden anderen Männer salutierten zackig. Lubba war ein kleiner, stämmiger Rohling und mit den barbarischsten Tätowierungen übersät. Dremmond war jünger und von schlichterem Äußeren. Seine Haare waren kurz und dunkel.

»Sie sind Flammer?«

»Jawohl, Herr Marschall«, sagte Brostin. »Im Dienst des Imperators. Er gibt uns das Feuer, und wir geben sein Feuer an seine Feinde weiter.«

»Nun, Sie können die Tanks und die Brennerdüsen wieder zurück ins Landungsboot bringen, Soldat.«

»Herr Marschall?«

»Eine Stadtverordnung. Nur die Offiziere des Regiments Civitas Beati dürfen im Kampf Flammenwerfer tragen und benutzen.«

»Bitte um Verzeihung, Herr Marschall … warum?«, fragte Lubba.

»Auf dieser Welt ist Wasser Macht und der Feind des Wassers – Feuer – ein Privileg, das nur der hochgeborenen Krieger-Kaste zusteht. Wünschen Sie eine ausführlichere Erklärung?«

»Nein, Herr Marschall«, sagte Brostin.

Biagi ging weiter. »Kommissar Hark?«

Der Kommissar drehte sich um und salutierte zackig.

»Biagi. Marschall der Civitas Beati. Willkommen auf Herodor«, sagte Biagi, indem er den Gruß erwiderte und Hark die Hand schüttelte. »Man hat mich gebeten, Sie aufzusuchen.«

»Tatsächlich?«

»Marschall Lugo würde gern unter vier Augen mit Ihnen reden.«

»Das dachte ich mir«, sagte Viktor Hark.

 

Ayatani Zweil ließ seine betagte Gestalt langsam zu Boden sinken und küsste das Metalldeck, während er Gebete murmelte, die er schon beinahe sein Leben lang kannte, aber erst jetzt mit Bedeutung erfüllt zu werden schienen.

Er war von Geistern umringt, die aus den Landungsbooten stiegen. Viele knieten neben ihm nieder, zückten ihre eigenen Glaubensbänder aus grüner Seide und küssten sie so, wie man es ihnen beigebracht hatte. Sie waren gläubig, diese Jungen und Mädchen, diese Soldaten. Das war ein prächtiger Anblick. Er wickelte das grüne Perlenband um seine runzligen Fingerknöchel ab und begann mit der Rezitation der Litanei.

Gaunt tauchte neben ihm auf und zog ihn sanft auf die Beine.

»Ich muss die Litanei beenden …«, begann Zweil.

»Ich weiß. Aber Sie befinden sich mitten auf einem Landedeck und könnten leicht zerquetscht werden, wenn Sie hier bleiben.«

Zweil schmollte ein wenig, ließ sich aber von Gaunt aus dem Weg führen, während Obel und Garond eine Kiste mit Raketen mithilfe einer Antigrav-Winde auf die Andockterrasse hievten.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Gaunt.

Der Imhava-Ayatani starrte Gaunt aus grimmigen Knopfaugen an. »Natürlich! Wie könnte es mir nicht gut gehen?«

»Sie sind übermüdet, Ayatani-Vater. Die lange Reise hat Sie ausgelaugt.«

Zweil schnaubte verächtlich. Hätte Gaunt so etwas auf Aexe angedeutet, hätte er ihm wohl recht gegeben. Dort hatte er die Anzeichen zu ignorieren versucht, aber es hatte sich nicht abstreiten lassen, dass sein Alter ihm langsam zu schaffen machte. Er hatte sich ehrlich gefragt, wie lange ihm das Schicksal wohl noch geben mochte.

Dann war die Nachricht gekommen. Und seine arthritischen Gelenke und sein sich trübender Verstand waren mit neuer Vitalität erfüllt worden.

Zweil sah Gaunt an und bereute seine Schärfe. »Beachten Sie mich einfach gar nicht. Ich bin alt und sehnsüchtig, habe die letzten Monate auf einem Flottenschiff verbracht und ständig davon geträumt, was uns hier erwartet. Ich hatte erwartet, dass …«

»Was?«

Zweil schüttelte den Kopf.

»Dass der ganze Planet von einem Duft nach lieblichem, unverdorbenem Fleisch erfüllt ist? Von einem Duft nach Islumbinen?«

Zweil grinste. »Ja, wahrscheinlich. Auf der ganzen langen Reise von Aexe Cardinal hierher habe ich mich gefragt, was uns wohl erwartet.«

»Ich mich auch«, sagte Gaunt.

»Ibram … ich kann kaum glauben, dass es wahr ist.«

»Ich auch nicht, Vater.«

Gaunts Worte hatten einen Unterton, der Zweil aufmerken ließ. Er sah seinen Freund und konnte dessen Gesichtsausdruck entnehmen, dass er sich mit dem Tonfall in irgendeiner Form verraten hatte.

Zweil starrte ihn an und runzelte die Stirn. »Was ist los?«

»Nichts. Vergessen Sie’s.«

»Das kann ich nicht, Gaunt. Wüsste ich es nicht besser, würde ich Sie für einen Zweifler halten. Was verschweigen Sie mir?«

»Nichts, wie ich schon sagte.«

»Auf Aexe hat sie zu Ihnen gesprochen …«

Gaunt senkte die Stimme zu einem Flüsterton. »Bitte, Ayatani-Vater. Das muss unter uns bleiben. Es ist eine sehr private Angelegenheit. Ich wollte nur sagen …«

»Was?«

»Ist Ihnen schon mal etwas zu schön vorgekommen, um wahr zu sein?«

Zweil grinste. »Natürlich. Auf Frenghold gab es mal ein sehr gelenkiges Mädchen, aber diese Angelegenheit ist noch privater als Ihre auf Aexe Cardinal. Ich verstehe Zweifel, Ibram. Die Beati hat uns in ihren Episteln selbst vor falschen Götzen gewarnt. Aber die Weissagungen können nicht lügen. Jede Kirche der Ekklesiarchie in diesem Subsektor hat Zeichen und Prophezeiungen gesehen. Und Sie … Sie haben mehr Grund, Vertrauen zu haben, als jedes andere lebendige Wesen auf dieser Welt.«

Gaunt holte tief Luft. »Ich habe Vertrauen in die Geistlichkeit der Heiligen und in die unergründlichen Werke des Gott-Imperators. Die Menschen sind es, zu denen ich kein Vertrauen habe.«

Zweil war beunruhigt, doch er brachte ein Lächeln zustande und klopfte Gaunt auf den Arm. »Vergessen Sie die Schwachheit der Menschen, Ibram. Auf Herodor gibt es ganz bestimmt Wunder.«

»Gut. Wenn Sie Ana sehen … schon gut, da ist sie ja.«

Gaunt verließ den alten Priester und wand sich durch das Gedränge der aussteigenden Geister.

»Ana?«

Stabsärztin Ana Curth schaute von einer Ladung sterilisierter Sanitätsinstrumente auf, von der sie gerade eine Bestandsaufnahme machte. Sie erhob sich, klemmte die Datentafel unter den Arm und strich die kurzen Ponyfransen aus dem herzförmigen Gesicht.

»Kommissar-Oberst?«

»Die Angelegenheit, die wir unterwegs besprochen haben …«

Sie seufzte. »Wissen Sie was? Ich habe einfach nur zugehört, Ibram. So viele Wochen mit Ihnen auf einem Truppentransporter. Da war es einfacher, zu allem zu nicken, als offen meine Meinung zu sagen. Nun, jetzt sind wir hier, und jetzt sage ich meine Meinung. Sie sollten mit Dorden darüber reden.«

Gaunt zuckte zusammen. »Der Oberstabsarzt und ich kommen im Moment nicht sehr gut miteinander aus.«

»Das liegt daran, dass Sie beide sture Dummköpfe sind, und ich für meinen Teil …«

»Halten Sie die Klappe, Curth.«

»Ich halte die Klappe, Herr Kommissar.«

»Ich möchte, dass Sie das für mich tun. Bitte. Privat. In aller Stille.«

»Es ist eine Glaubensfrage …«

»Sie können mir zu allem Fragen stellen, Frau Stabsärztin, nur nicht zum Glauben.«

Sie zuckte die Achseln. »Na schön. Sie haben gewonnen. Ich hole meine Ausrüstung, obwohl … obwohl es mir nicht gefällt.«

Sie entfernte sich ein Stück, dann drehte sie sich um und rief zurück: »Ihnen ist schon klar, dass ich das nur mache, weil Sie so erstaunlich im Bett sind.«

Die Geister rings um sie blieben wie angewurzelt stehen. Mehrere ließen ihren Seesack fallen. Curth sah sie an und verzog das Gesicht. »Ein Scherz. Das war ein Scherz. Ach, um Feths willen, ihr Leute …«

Sie verschwand in der Menge. Gaunt musterte die glotzenden Soldaten in seiner Nähe. »Weitermachen«, begann er, dann seufzte er und winkte ab.

»Herr Kommissar?«

Das war Beltayn. Gaunts Adjutant. Gaunt gefiel sein Gesichtsausdruck nicht.

»Raus damit.«

»Herr Kommissar?«

Gaunt neigte den Kopf und sah Beltayn an. »Irgendwas ist faul. Das sehe ich Ihnen an.«

Beltayn verzog das Gesicht und nickte. »Wir … wir vermissen ein paar Landungsboote.«

»Ein paar?«

»Drei oder so.«

»Drei oder so?«

»Nun ja. Eigentlich sind es vier.«

»Welche?«

»Zwo, drei, vier und fünf.«

»Corbec, Rawne, Mkoll und Soric. Ich weiß, dass ich bereuen werde, diese Frage gestellt zu haben, Beltayn, aber haben Sie irgendeine Ahnung, woran das liegen könnte?«

»Sie sind beim Landeanflug vom Kurs abgewichen, Herr Kommissar.«

»Vom Kurs abgewichen? Auf wessen Mist ist das gewachsen? Lassen Sie mich raten … Corbec?«

»Ja, Herr Kommissar.«

»Und jetzt sind sie wo?«

»Wie ich es verstanden habe, Herr Kommissar, wurden sie auf die Kampfhandlungen am Stadtrand aufmerksam, und Oberst Corbec kam zu dem Schluss, sie sollten …«

»Sollten?«

»Mit anpacken, Herr Kommissar.«

»Ach, Feth«, sagte Gaunt.

 

Major Udol wälzte sich herum. Die Schleichpanzer zerschossen das Gelände rings um ihn. Er hörte nur noch das schrille jaulende Wupp-wupp ihrer unablässig feuernden Kanonen. Er blutete aus einer Kopfwunde. Die verkohlten Überreste eines seiner Männer hingen über einem halb zusammengebrochenen Zeltgestänge vor ihm.

Ein Schatten huschte über ihn hinweg, und er konnte dem Staub entnehmen, dass der Wind wieder gewechselt hatte. Er war plötzlich böig aufgefrischt. Dreckklumpen prasselten gegen ihn.

Was war nun los?

Udol schaute nach oben und erstarrte. Mit flammenden Schubdüsen und in der Sonne glitzerndem Rumpf fiel ein Landungsboot praktisch auf sie. Ein Zweites setzte keine fünfhundert Meter entfernt auf, und daneben fielen noch zwei weitere wie Riesenkäfer vom Himmel.

Es waren ganz normale Landungsboote der Imperialen Garde. Klobige, stumpfnasige Transportschiffe. Die Imperiale Garde. Er hatte zur Heiligen um Rettung gebetet. Was für eine Antwort war dies?

Udol spürte, wie der Boden erbebte, als das erste Landungsboot aufsetzte und auf seinen hydraulischen Landestützen hart hin und her schaukelte. Männer sprangen aus den sich öffnenden Luken des Landungsboots. Männer in schwarzer Uniform und Rüstung. Männer, die in Tarnumhänge gehüllt waren. Männer der Garde. Sie schwärmten ins Ödland der Obsidae aus und nahmen die vorrückenden Feinde und auch die verdammten Schleichpanzer unter Feuer. Die staubige Luft war plötzlich von einem Lichtgewitter aus Laserstrahlen erfüllt.

Udol kam auf die Beine und sah gerade noch, wie der nächste Schleichpanzer seine Kanonen neu ausrichtete und auf das erste Landungsboot zielte, das bereits im Abheben begriffen war. Ein Treffer ließ die Nase herumrucken und die Triebwerke protestierend aufheulen, aber es hob ab und flog über seinen Kopf hinweg davon, die Landestützen noch ausgefahren und die Luken immer noch weit geöffnet.

Aus der hastig gebildeten Formation der Neuankömmlinge stieg eine Rauchwolke auf, und eine Rakete jagte dem ersten Schleichpanzer entgegen. Eine Zweite folgte. Ein Feuerball entstand um den Vorbau des Panzers, der zum Stillstand kam, während sein Rumpf auf den Beinen hin und her schaukelte. Er zögerte, machte noch einen Schritt und wurde dann frontal von einer weiteren Rakete getroffen. Ein Explosionsblitz erhellte das Glasfeld einen Moment, und als er erlosch, war der Panzer verschwunden, und aus der Rauchwolke über der Explosionsstelle regneten heiße Bruchstücke vom Chaos ersonnener Technologie herab.

Udol versuchte seine Männer über Kom zu erreichen, aber ein fremdes Signal überlagerte die Frequenz. Er bekam nur Bruchstücke davon mit. Etwas wie: »… worauf wartet ihr, bei Feth?«, gefolgt von »… ewig leben!«

Er lief los und scheuchte seine Männer auf. Die Garde schlug die Phalanx der Angreifer zurück. Ein weiterer Feuerball erleuchtete kurz den Himmel, hell wie eine aufgehende Sonne. Der zweite Schleichpanzer war explodiert.

Asche wirbelte durch die Luft. Die Soldaten in Schwarz, die mit blitzenden Gewehren vorwärts eilten, waren in dem staubigen Dunst kaum zu sehen.

Sie waren wie Geister, dachte Udol.

Wer sie auch waren, sie schienen unerträglich zufrieden mit sich zu sein. Während sich Udol ihnen näherte, gratulierten sich die schwarz gekleideten Soldaten johlend und lärmend gegenseitig, während sie zurücktrabten, um sich die schweren Rucksäcke mit Ausrüstung zu holen, die sie in ihrer Eile bei der Landung zurückgelassen hatten. Die wenigen überlebenden Feinde waren in die staubige Weite der Obsidae geflohen. Der dritte und letzte Schleichpanzer war eine brennende Masse auf dem Glasfeld. Der Boden war mit rot uniformierten Leichen übersät.

Udol versuchte einen Offizier unter den Gardisten zu identifizieren. Diese Männer schienen außer einem Abzeichen, das aus einem Schädel und einem Dolch bestand, und dem Adler der Imperialen Garde keine Erkennungsmerkmale aufzuweisen. Ihre Gesichter waren unter primitiven, klobigen Atemmasken verborgen.

»Sind Ihre Jungs in Ordnung?«, fragte eine tiefe Stimme hinter ihm.

Udol drehte sich um. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, war groß und breit, und widerspenstige Strähnen eines dichten schwarzen Barts lugten um die Ränder der Maske. Sein Akzent war eigenartig.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte Udol.

»Ihre Jungens. Ich habe mich nach ihnen erkundigt. Sie waren da etwas in der Klemme.«

»Wir …«, begann Udol. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. »Sie sind mit Landungsbooten gekommen«, war alles, was ihm einfiel.

Der große Fremde zeigte mit dem Daumen zum Himmel. »Wir waren die letzten sechzehn Stunden in der Umlaufbahn, dann hieß es, ab in die Landungsboote, wofür jeder dankbar war. Also sind wir auf dem Weg nach unten, und plötzlich kommt die Meldung, dass es einen Angriff gibt und wir die Landung abbrechen müssen. Feth drauf, sage ich, außerdem war es schon zu spät für eine Umkehr, wenn Sie wissen, was ich meine. Wir konnten die Landezone von oben sehen und dann auch das Feth-Gewitter …«

»Das was?«

»Die Schießerei. Freunde in Schwierigkeiten, sage ich, also lösen wir uns aus der Formation und landen da, wo wir, wie die Dinge liegen, von größtmöglichem Nutzen sein können.«

»Sie … sie sind mitten in einem Feuergefecht gelandet anstatt in der Landezone?«, fragte Udol.

»Ja, genau. Ich selbst betrachte das als ökonomische Vorgehensweise. Wenn wir sowieso landen wollten, konnten wir es auch für einen guten Zweck tun. Also haben wir genau das getan. War wohl auch ganz gut so. Übrigens, wer sind Sie?«

Udol betrachtete die behandschuhte Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. »Major Erik Udol, Dritte Kompanie, Regiment Civitas Beati.«

»Freut mich sehr und so weiter, Udol. Sie müssen entschuldigen, aber dieses alte Kriegsross hier ist immer noch auf dem Hoch des Kampfes. Meine Jungs sind deswegen auch etwas ausgelassener. Zu viele Monate im Laderaum eines Transporters, zu wenig zu tun. Das ist hier Herodor, was? Hab schon so viel davon gehört.«

»Wissen Sie eigentlich …«, begann Udol. »Wissen Sie eigentlich, wie sehr es gegen die Vorschriften ist, Landungsboote mitten in einem Feindangriff heruntergehen zu lassen?«

Der große Fremde hielt inne, als denke er darüber nach. »Ich bin ziemlich sicher, dass die Antwort darauf ›ja‹ lautet. Wissen Sie eigentlich, wie wirkungsvoll so ein Angriff aus der Luft auf einen angreifenden Feind ist? Oder wollen Sie lieber nicht ewig leben?«

»Ich …«

»Sehen Sie selbst«, sagte der Fremde, indem er den massigen Arm in einer ausladenden Geste herumschwang. »Beachten Sie die Trümmer und die angenehme Abwesenheit von Feindfeuer und dazu die Ärsche vieler Feinde, die Fersengeld geben. War sonst noch etwas, Major?«

»Wer sind Sie?«

»Oberst Corbec, Erstes-und-Einziges Tanith.«

»Oh«, sagte Udol, der endlich begriff. »Die Tanither. Sie sind das also. Diejenigen, auf die sie wartet.«

Corbecs improvisierte Entsatzstreitmacht, vier Trupps stark, sammelte sich in vage geordneten Gruppen am Rande der Kampfzone. Es hieß, der verantwortliche Offizier der einheimischen Truppen habe mit Tak-Log, der taktisch-logistischen Zentrale, Verbindung aufgenommen, um Transportmittel anzufordern, die sie in die Stadt bringen würden.

Major Rawne von den tanithischen Geistern, der dritthöchste Offizier nach Gaunt und Corbec und Kommandeur des dritten Trupps, entfernte sich ein Stück von dem improvisierten Sammelpunkt, bis er allein war. Dann blieb er stehen und drehte sich langsam im Kreis, um die Szenerie zu betrachten. Dies war sein erster Blick auf Herodor, eine Welt, die zu erreichen sie Monate eintöniger Raumfahrt benötigt hatten. Eine Welt, auf der es ein großes Wunder gab.

Es war keine schöne Welt. Sie sah absolut nicht wunderbar aus, aber ihr haftete eine Art kalte Schönheit an, räumte Rawne ein. Der Himmel war eine simple, strahlend weiße Fläche mit kleinen graublauen Flecken am Horizont, vor allem im Norden, wo sich schmutzige Felskrusten in die Luft reckten. Die Gegend ringsherum – Obsidae nannten sie die Einheimischen – war ein nacktes Feld aus blauem Staub, das mit schwarzem, vulkanischem Glas übersät war. Die dünne Luft war kalt und staubtrocken. Man hatte Rawne informiert, der größte Teil Herodors sei eine arktische Wüste, eine trockene Einöde aus Staubfeldern, Glasklippen und bröckelnden Böschungen mit Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. All das erinnerte ihn unangenehm an den Tod, an die kalte, vertrocknete, spröde Wahrheit, die alle Gräber enthielten. Die Geister waren noch auf keiner Welt gewesen, die sie nicht Leben und Blut gekostet hatte. Welchen Preis würde Herodor verlangen? Für wen würden diese einsamen, öden Wüsten der letzte Anblick sein?

Für jeden von uns, dachte er. Für uns alle. Der Tod ist nicht wählerisch. Auf Aexe Cardinal war er ihm selbst sehr nah gekommen. Er spürte seinen kalten Griff immer noch an sich, als wolle er ihn nicht loslassen.

Oder vielleicht war das auch nur der kalte Wind, der von der Obsidae hereinwehte.

Rawnes langsamer Rundumblick fiel schließlich nach Süden auf die Stadt selbst. Die Civitas Beati, die Stadt der Heiligen, ein unbedeutender Schrein, nur einer von vielen Orten und vielen Welten, die vor vielen Tausend Jahren mit Sabbat in Berührung gekommen und heilig gemacht worden waren. Es war ein geschäftiger Ort und die größte Stadt auf Herodor. Drei Makropoltürme aus weißen Quadersteinen standen wie Leibwächter rings um eine höhere, ältere, dunklere Mittelspitze, die wiederum von niedrigeren Habitaten, Manufakturen, Schnellstraßen und Viadukten umgeben waren. Im Westen lagen die dunklen Kuppeln der zahlreichen agroponischen Landwirtschaftsbetriebe, die die Stadt ernährten und ihrerseits von den heißen Mineralquellen am Leben erhalten wurden, auf denen die Stadt gegründet worden war. Das machte sie zu etwas Besonderem, überlegte Rawne pragmatisch. Es ging gar nicht darum, wer vielleicht hier gewesen war und was der Betreffende getan hatte. Diese Stadt gab es nur wegen der Thermalquelle, die an dieser einen Stelle die kalte Erdkruste durchbrach.

Rawne hörte jemanden seinen Namen rufen. Der Ruf wurde durch eine Atemmaske gedämpft. Er drehte sich um und sah Mkoll, den obersten Späher des Regiments, der zu ihm gelaufen kam.

»Mkoll?«

»Die Transporter sind da, Herr Major.«

Am Rande der Obsidae war ein Aquädukt, und eine Kolonne ramponierter Transporter rollte durch die Bögen.

»Sorgen wir für Bewegung bei den Männern«, sagte Rawne zum Anführer der Späher.

Bis die beiden sich wieder zur Hauptgruppe gesellt hatten, stiegen die Geister bereits in die wartenden Transporter. Mkoll vergewisserte sich, dass sein Trupp die Ausrüstung verstaut hatte. Als er sich umschaute, sah er Sergeant Soric vom fünften Trupp, der es beim Einsteigen mit seinen Männern gemächlich anzugehen schien. Mkoll lief zu ihm. Die letzten Mitglieder des Fünften suchten sich gerade einen Platz auf der Ladefläche des Transporters. Soric, der alte Schurke, starrte angestrengt auf ein Stück Papier.

»Alles in Ordnung?«, fragte Mkoll ihn.

Soric sah auf, als habe Mkoll ihn erschreckt. Er knüllte das Stück Papier, einen blauen Meldezettel, zusammen und warf ihn weg. »Bestens!«, sagte er zu Mkoll und reckte dann die Hände zur Ladeklappe, sodass die nächsten Männer ihm behilflich sein konnten, seine Körperfülle auf den Laster zu hieven.

Mkoll klopfte zweimal auf den hinteren Kotflügel, und der Transporter fuhr in einer Abgaswolke und mit lautem Heulen des überdrehten Motors los. Er machte sich auf den Rückweg zu seinem eigenen Transporter.

Die Kugel aus blauem Papier wurde ihm vom Wüstenwind, der über die Scherben des Glasfelds wehte, vor die Füße getragen. Mkoll bückte sich und fing sie aus der Luft. Der Zettel war von einem der Blöcke abgerissen worden, die für Meldungen benutzt wurden, wenn das Kom nicht funktionierte. Sorics Kom funktionierte ausgezeichnet, oder nicht?

Mkoll entfaltete den Zettel. Eine handschriftliche Zeile stand darauf: Ärger noch vor der Landung.

Was, im Namen Terras, fragte sich Mkoll, hatte das zu bedeuten?


ZWEI